Wiederaufnahmeverfahren – so kann die Rechtskraft eines Urteils durchbrochen werden

Ist erst einmal der Hammer des Richters gefallen und das Urteil in letzter Instanz bestätigt, ist der Richterspruch endgültig. Diese Endgültigkeit am Ende des regulären Rechtsgangs ist jedoch keine Absolute! Kommen nachträglich neue Beweise, Tatsachen oder andere Umstände zum Vorschein, die dem erkennenden Gericht damals nicht bekannt waren, dann gibt es Hoffnung!

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Das Wiederaufnahmeverfahren im Strafprozess

Artikel 4, Absatz 2 des 7. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (7. ZP MRK) sieht die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens dann vor, wenn neue Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. Das 7. ZP MRK hat in Österreich Verfassungsrang und ist auch in anderen europäischen Staaten Teil des Grundrechts und fester Bestandteil der jeweiligen Strafprozessordnungen.
Die österreichische Strafprozessordnung (öStPO) regelt das Wiederaufnahmeverfahren in den §§ 353 ff. Die in Deutschland geltenden Bestimmungen zum Thema Der Antrag auf Wiederaufnahme sind ähnlich ausgestaltet.

Welche Chancen und Risiken bestehen?

Liegen Gründe für eine Wiederaufnahme vor, dann kann diese sowohl zugunsten als auch zulasten des Beschuldigten beantragt werden. Selbst nach einem rechtskräftigen Freispruch kann das Verfahren später zum Nachteil des Beschuldigten durch Wiederaufnahme neu aufgerollt werden.
Wird ein Verfahren zum Vorteil eines Verurteilten angestrengt, dann nur zum Zweck eines Freispruches oder einer Herabsetzung des Strafmaßes. Einer strengeren Bestrafung steht in diesem Fall der Rechtsgrundsatz der reformatio in peius (Verschlechterungsverbot) entgegen. Die Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten ist somit nicht mit dem Risiko einer Strafverschärfung verbunden.

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Voraussetzungen

Die Wiederaufnahmegründe sind in den §§ 353 ff öStPO abschließend geregelt. Neben einem rechtskräftigen Urteil oder Einstellungsbeschluss müssen noch folgende Voraussetzungen vorliegen:

  • Die Verurteilung oder der ergangene Bescheid stützen sich auf eine gefälschte Urkunde oder eine falsche Zeugenaussage.
  • Neue Tatsachen oder Beweismittel, die zum Zeitpunkt des Urteilsspruches nicht bekannt waren, sind hervorgekommen oder
  • für die gleiche Tat wurden zwei oder mehrere Personen durch unterschiedliche Erkenntnisse verurteilt und die Nichtschuld einer oder mehrerer Personen ist anzunehmen.
  • Details gibt es beispielsweise auf https://www.oesterreich.gv.at/themen/dokumente_und_recht/strafrecht/9/2/Seite.2460511.html von offizieller Stelle nachzulesen.

Nicht als Tatsache im Sinne eines Wiederaufnahmeantrages sind Änderungen von Gesetzen oder der Rechtsprechung, auch dann, wenn sich diese auf das Strafmaß des Verurteilten günstiger auswirken würden.

Die deutsche Strafprozessordnung (dStPO) dehnt die Wiederaufnahmegründe noch auf die strafbare Verletzung von Amtspflichten durch Richter und Schöffen aus. Die Wiederaufnahme kann auch dann beantragt werden, wenn Urteile von Zivilgerichten für die strafrechtliche Verurteilung maßgebend waren und nachträglich aufgehoben werden. Einen weiteren Wiederaufnahmegrund stellt eine vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verletzung von Grundfreiheiten und Menschenrechten dar.

In Österreich ist die Befangenheit eines Richters oder Sachverständigen für das Wiederaufnahmeverfahren nur dann von Relevanz, wenn dies zu einem günstigeren Urteil führt.

Eine vom EGMR festgestellte Grundrechtsverletzung fällt in Österreich nicht unter die Wiederaufnahme, sondern hat eine Erneuerung des Strafverfahrens (vgl. §§ 363 ff öStPO) zur Folge, worüber der OGH entscheidet. Antragsberechtigt sind der Betroffene und der Generalprokurator.

Antragstellung zugunsten oder zulasten des Angeklagten?

Die Wiederaufnahme kann entweder zugunsten des Beschuldigten bzw. des Angeklagten oder zu dessen Ungunsten beantragt werden. Ob der Betroffene die Strafe bereits verbüßt hat oder verstorben ist, ist für dieses außerordentliche Rechtsmittel unerheblich. Antragsberechtigt sind jene Personen, die auch berechtigt wären, Nichtigkeitsbeschwerde oder Berufung gegen ein Urteil oder einen Beschluss einzubringen.

Erhält die Staatsanwaltschaft Kenntnis von einem Wiederaufnahmegrund zugunsten des Angeklagten, so hat sie diesen oder eine sonstige antragsberechtigte Person (z.B. Hinterbliebenen) in Kenntnis zu setzen oder selbst den Antrag auf Wiederaufnahme zu stellen.

Kommen Tatsachen oder Beweismittel zum Vorschein kommen, die einen bereits rechtskräftig Freigesprochenen belasten, kann die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens zulasten des Beschuldigten selbst beantragen, wenn dessen Strafbarkeit wegen Verjährung noch nicht erloschen ist. Privatankläger sind hingegen nur im Fall einer Einstellung des ursprünglichen Verfahrens antragsberechtigt.

In Deutschland ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen erst seit 30. Dezember 2021 möglich, allerdings eingeschränkt auf bestimmte Delikte wie Mord, Völkermord oder anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Beiziehung eines Rechtsanwaltes?

Für die Durchbrechung der Rechtskraft eines Urteils oder eines Bescheides durch Wiederaufnahme gilt ein strenger Prüfungsmaßstab. Der Wiederaufnahmeantrag bedarf einer ausreichenden Begründung und Darlegung, warum die vorgebrachten Tatsachen oder Beweise nicht schon früher erbracht werden konnten und inwieweit sich diese für den Verurteilten günstiger auswirken.

Im Gegensatz zur deutschen Strafprozessordnung schreibt die österreichische keine explizite Anwaltspflicht vor. Das Verfahren ist jedoch äußerst komplex und die Erfolgsaussichten gering. Die Beiziehung eines Rechtsanwaltes ist somit ratsam. Eine Anwaltspflicht besteht hingegen nur bei der Erneuerung des Strafverfahrens aufgrund eines Urteils des EGMR.

Welche Fristen sind zu beachten und wo ist der Antrag einzubringen?

Weder die österreichische noch die deutsche Strafprozessordnung sehen für die Einbringung den Wiederaufnahmeantrag eine Frist vor. Die Wiederaufnahme kann jederzeit ab Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes beantragt werden.

In Österreich ist der Antrag auf Wiederaufnahme bei dem Landesgericht einzubringen, das nach Abschluss des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens die Einstellung des Verfahrens beschlossen hat bzw. bei dem Landesgericht, das für das Hauptverfahren zuletzt zuständig war. Das Landesgericht entscheidet unter Ausschluss des Erstrichters, bei einem bezirksgerichtlichen Verfahren das Bezirksgericht.

In Deutschland ist dem Gericht, gegen dessen Entscheidung sich der Wiederaufnahmeantrag richtet, die Zuständigkeit entzogen. Es entscheidet ein anderes Gericht mit gleicher sachlicher Zuständigkeit.

Der eingebrachte Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Je nach Umständen des Falles kann das Gericht mit Beschluss auch die Hemmung aussprechen.

Das Landesgericht fordert den Antragsgegner zu einer Gegenäußerung binnen 14 Tagen auf bzw. kann es weitere Ermittlungen anordnen. Antragsteller und Antragsgegner ist Gelegenheit zu geben, sich dazu binnen 14 Tagen zu äußern.
Im Regelfall entscheidet das Landesgericht nach nicht öffentlicher Sitzung durch Beschluss.
Das Landesgericht kann den Verurteilten sofort freisprechen oder das Strafmaß mindern, ansonsten tritt das Verfahren auf den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück.
Das Gericht kann entweder direkt durch Beschluss oder in einer öffentlichen Verhandlung über die Wiederaufnahme oder deren Verwerfung entscheiden.

  • Wird der Wiederaufnahmeantrag durch Beschluss verworfen, so kann dagegen Beschwerde beim Oberlandesgericht eingebracht werden.

In Deutschland gliedert sich die Wiederaufnahme bzw. das Thema Der Antrag auf Wiederaufnahme in ein Additions- und ein Probationsverfahren. Im Additionsverfahren prüft das Wiederaufnahmegericht zuerst die Zulässigkeit des Antrags. Ist diese positiv, werden als nächster Schritt die sachlichen Voraussetzungen geprüft. Liegen diese vor, entscheidet ein anderes Gericht in Hauptverhandlung über die Wiederaufnahme. Die gefassten Beschlüsse können mit sofortiger Beschwerde angefochten werden.

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